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Bewegung ist auch eine Frage der Kraft

Grafik erstellt unter Verwendung von midjourney v.6.1

Mit gut 40 Teilnehmer*innen fiel die Beteiligung beim diesjährigen DH-Tag zwar etwas geringer aus als in manchem Vorjahr. Die Anwesenden jedoch hielt das keineswegs davon ab, sich dem Thema Bewegung besonders engagiert zu widmen. Eine herausragende Keynote der Kölner Theaterwissenschaftlerin Nora Probst und ein ebenso nachdenklicher wie produktiver OpenSpace zur aktuellen und zukünftigen Lage der DH in Münster hielten den DH-Tag im Sinne seines Mottos kraftvoll in Bewegung.

Prorektorin für akademische Karriereentwicklung und Diversity
Begrüßung: Dr. Jan Horstmann, Leiter des SCDH Münster, Foto: Jan-Erik Stange / SCDH Münster

Den Anfang machten, wie immer, die Grußworte des Rektorats der Universität Münster der Universitäts- und Landesbibliothek Münster (ULB) und des Centers for Digital Humanities (CDH). Prof. Dr. Maike Tietjens stellte als Prorektorin die Bedeutung der DH und seiner Institutionen an der Universität heraus und verwies mit Blick auf das bittere Ergebnis des Exzellenzverfahrens auf die wichtige Rolle der Interdisziplinarität. Jörg Lorenz, stellvertretender Leiter der ULB, sieht in der mittlerweile veröffentlichten DH-Strategie ein gutes Instrument für die weitere Entwicklung, forderte die Anwesenden aber auch auf, stärker positiv über das, was möglich ist, zu kommunizieren. Prof. Dr. Jan Keupp, der Sprecher des CDH versteht die DH mit Blick auf Novalis und Leibniz als „ein von vielen bewegter Beweger“ …

Prof. Dr. Maike Tietjens, Prorektorin für akademische Karriereentwicklung und Diversity der Universität Münster
Prof. Dr. Maike Tietjens, Prorektorin für akademische Karriereentwicklung und Diversity der Universität Münster, Foto: Jan-Erik Stange / SCDH Münster
Grußwort: Jörg Lorenz, stellvertretender Leiter der ULB Münster
Grußwort: Jörg Lorenz, stellvertretender Leiter der ULB Münster, Foto: Jan-Erik Stange / SCDH Münster
Grußwort: Prof. Dr. Jan Keupp, Sprecher des CDH Münster
Grußwort: Prof. Dr. Jan Keupp, Sprecher des CDH Münster, Foto: Jan-Erik Stange / SCDH Münster
Keynote: Dr. Nora Probst, Universität zu Köln
Keynote: Dr. Nora Probst, Universität zu Köln, Foto: Jan-Erik Stange / SCDH Münster

Kritisch bewegt ging es anschließend in der Keynote-Präsentation (Video | Vortragsfolien) von Nora Probst zum Thema „Posen, Proteste und Performances. Bewegungs­phänomene im Archiv“ zur Sache. Zunächst offentbarte ein kurzes Video einer Performace im New Yorker MoMA, was sonst eher unkenntlich bleibt: der Gender-Gap in der Sammlung des Museums. Bemerkenswert ist dabei, dass die Namen der im Museumsbestand vertretenden Künstler*innen als Daten allein nicht preisgeben, worum es geht. Erst das Zusammenspiel von Bewegung und Wahrnehmung verdeutlicht nach und nach das diskriminierende Missverhältnis in den MoMA-Depots.

Die allgemeine Botschaft dahinter: Die in der Anwendung der DH-Methoden implizit behauptete Objektivität ist ein Mythos, den es zu hinterfragen gilt. Erst die kritische Analyse der vielschichtigen Voraussetzungen von Bewertungen und Bedeutungen der verwendeten Daten ermöglicht ihre angemessene wissenschaftliche Darstellung. Als Theaterwissenschaftlerin problematisiert Probst hier beispielhaft die Datenmodellierung einer Theateraufführung. Von einem objektiven Standpunkt im Nirgendwo betrachtet, entgehen den Forschenden offensichtlich relevante Merkmale des Theatererlebens. Diese zu erfassen bedarf einer ausführlich und offen gestalteten Metadatenstruktur.
Umso radikaler erscheint dieses Problem, werden zusätzlich die Möglichkeiten einer softwaregestützen Transformation von Daten in den Blick genommen. So orientiert sich die Relevanz animierter oder virtualisierter Digitalisate nur noch begrenzt an den ihnen zugrunde liegenden physischen Objekten, dafür mitunter gerade an den von ihnen hervorgerufenen Affekten. Eine „Objektivität“ im herkömmlichen Sinne kann hier kaum noch eine Erkenntnis garantieren. Gerade vor dem Hintergrund digital unterstützter Produktion von Kunst- und Kulturgütern verliert der objektive Kern der „Wahrheit“ seine Bedeutung zugunsten der Häutungen ihrer praktischen Anwendung.
So endet Probst in einem Plädoyer, bei der Anwendung von DH-Methoden nicht zu beharren oder gar zu vertrauen auf vordergründigen Objektivitätsansprüchen, sondern sich forschend den Herausforderungen einer kritisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Datenmodellen zu stellen.

Impressionen von der Keynote, Fotos: Jan-Erik Stange / SCDH Münster

Fester Bestandteil von DH-Tagen in Münster ist von je her die Vorstellung der Arbeitsgruppen des Arbeitskreises DH (AK-DH). Der AK-DH bildet den institutionellen Kern, aus dem 2017/2018 das CDH und das SCDH an der Universität Münster entstanden sind. Selbstorganisiert hatten sich hier Forschende der Universität Münster, die mit DH-Methoden arbeiten (wollen) gegenseitig durch Vorträge und Workshops unterstützt und ausgetauscht. Die aktuelle Struktur der Arbeitsgemeinschaften dient genau diesem Zweck. Inhalt und Form der Arbeit ändern sich je nach Bedarf. Organisiert sind die AGs von Wissenschaftler*innen, das SCDH unterstützt über Mentor*innen und sorgt für Kontinuität.

Mentor*innen und Organisator*innen stellen die AGs des AK-DH vor: Matthias Kayß (Moderation), Katharina Dietz (Texterkennung), Dr. Sascha Hinkel (TEI), Dennis Voltz (KI), Ingo Frank (Datenmodellierung), Prof. Dr. Janoscha Kreppner (Geoinformationssysteme), Dr. Nikola Moustakis (Wissenschaftskommunikation), Fotos: Jan-Erik Stange / SCDH Münster

Die Mitglieder des CDH nutzten die Mittagspause für ihre Mitgliederversammlung. Bei den anstehenden Vorstandswahlen bestätigten die Aktiven den aktuellen Vorstand und analysierten die aktuelle Situation der DH-Forschung in Münster.

Das Nachmittagspanel schloss hier inhaltlich direkt an. In einem OpenSpace dikutierten die Teilnehmer*innen unter dem Motto „DH bewegt. Wohin bewegt sich DH in Münster?“ an drei Tischen zu Fragen, welche die Anwesenden zurzeit am stärksten beschäftigen.
Unter den Stichwort „Mobilisierungsmacht“ wurde ausführlich diskutiert, wie neue DH-Interessent*innen gewonnen werden können. Die Gruppe spannte einen weiten Bogen über didaktische, bürokratische bis hin zu publizistischen Maßnahmen. Dabei trugen die Teilnehmer*innen viele Ideen, um die DH in Münster für jüngere Forschende attraktiver zu gestalten, zusammen.
Ein drängendes Problem bildet seit geraumer Zeit die Kehrseite der belegbar überaus erfolgreichen Arbeit des SCDH: die Überbelastung insbesondere bei der Administration und der Beratung – zwei Schlüsselbereiche für die weitere erfolgreiche Zukunft des DH-Supports in Münster. In dieser Frage erfolgte ein kreatives Brainstorming mit fruchtbaren Ergebnissen, die ausgiebig diskutiert werden können und müsssen.
Das dritte Thema ist ein DH-Klassiker, aber deswegen nicht weniger wichtig: der Umgang mit inhaltlicher Heterogenität. Der notwendig interdisziplinäre Charakter der DH-Forschung führt nicht selten zu Übersetzungsproblemen zwischen den Fächern. Insbesondere dort, wo der Gegenstand ein sehr eigener ist. So bildet z.B. die Sprache der Noten in der Musikwissenschaft eine kaum zu überwindende Hürde für alle Nicht-Musiker*innen. Gelingt die Zuammenarbeit, d.h. überwindet die Digitalität die Pluralität, bietet dies jedoch auch große Chancen für ein Problemverständnis jenseits der eigenen Disziplin.

Impressionen des Open Space am Nachmittag: „Wohin bewegt sich DH in Münster?“, Fotos: Jan-Erik Stange / SCDH Münster

Fazit
Die zurzeit herausfordernden Rahmenbedingungen der DH-Forschung waren deutlich spürbar beim diesjährigen DH-Tag und bildeten den Hintergrund zahlreicher Diskussionen und Überlegungen. Das Thema Bewegung erschien dabei gut und passend gewählt. Insbesondere die Keynote zeigte auch in der mitreißenden Präsentation die auch kritisch-unangepassten Potenziale der DH-Forschung – selbst auf dem abstrakten Gebiet der Datenmodellierung.
Überhaupt wurde klar, dass die klassische begriffliche Unterscheidung zwischen Kinesis und Dynamis auch für die aktuelle Lage der DH in Münster, aber auch darüber hinaus, von Bedeutung ist: Es kommt nicht nur auf die kinetische Bewegung an. Schnell und effektvoll mag ansprechend und attraktiv erscheinen, aber wirklich und nachhaltig wirksam ist die Bewegung nur mit der entsprechenden Dynamis, der Kraft, die Dinge wirklich vorantreiben kann. Obgleich Münster bereits große Schritte in die Zukunft hinter sich hat und durchaus mit Stolz auf die letzten Jahre blicken darf, benötigen wir ebenso ausreichend wie nachhaltig Kraft zur Bewältigung der künftigen Herausforderungen.

Die Keynote und die Vorstellung der AGs sind dokumentiert über zenodo.org

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